Übersetzung aus Mylène Farmer «Lisa – Loup et le conteur» © Editions Anne Carrière 2003

(Übersetzung durch Monique Dollinger; Mitarbeit durch Peter Marwitz)


Abschnitt 12 – Das Gefängnis
(Vor der Zelle)

Guten Tag, ich bin Lisa und ich suche den Mann, der redet...”

„Aber alle reden hier!” antwortet der Mann, „außerdem ist das die einzige Sache, die uns hier erlaubt ist. Kreuz aus Holz, Kreuz aus Eisen! Höre sie dir doch alle an... sie reden ins Leere, sie reden mit den Stühlen, wenden sich an die Wände und sogar an die Konfitüren.”

„Ich rede auch mit den Steinen, aber es immer einer drunter! Außerdem Großmutter, die unter der Erde ist...”

„Höre...” ärgert er sich, „ich kann hier nicht, ich habe drei Jahre zu abzusitzen, ich muss meine Füße bewegen. Dein Typ, er redet, hast du gesagt oder? Und ich, ich muss herumtrampeln.”

Lisa scheint verloren in ihren Gedanken, aber der Mann unterbricht sie brüsk und sagt:

„Hör, geh doch zur Zelle 1O2... Der Typ, der da drinnen ist, ist genau so plemplem wie du, Kind! Es sind nun zehn Jahre, seit er hätte draußen sein können, der Tote! Aber er will sich nicht bewegen!!! Und nicht einmal Mauern, um ihn zu hindern. Er hat viel Zeit, um dir zuzuhören. Und jetzt verschwinde!”

Lisa wendet sich von dem Mann ab, als sie ihre Meinung ändert und ausholt:

„Wenn du weiter so herumtrampelst, wirst du deine Füße abnutzen und so kommt man nicht weit, weißt du!!! Es ist Großmutter, die es immer sagte...”

Bevor der Mann, wütend ob solcher Unverschämtheit, die Arme von Lisa packen kann, rettet sich (nein, ohne Aufregung) diese.

„So ist's richtig, nimm deine Beine unter den Arm! Bevor ich ihn dir verdrehe”, schreit der Ganove, während er einen Moment lang die Stäbe des Käfigs vergisst.


SEIN ZORN VERLIEH IHM RIESIGE PLANETENFÖRMIGE AUGEN
UND DEN KOPF EINES KAKOUS
(keine Ahnung, was das ist... Anm. Peter M.),
EINES SEHR BÖSEN ZACKENBARSCHES!


Lisa, von ihm abgewandt, denkt:

„Was bringt es draußen zu sein, wenn es nur dazu dient, die Leute zu verletzen? Für drei Jahre, du könntest gut 100 verbringen” murmelt sie.

Sie hätte ihm vorhin gerne ihre Schuhe gegeben, aber jetzt nicht mehr! Er ist zu arrogant und mit DEN Füßen darin!

Eine etwas brutale Welt ordnete sich zur selben Zeit:

Krach von Kochtöpfen,
Pfannen in Ces-Moll,
Wächter wirbeln herum
und alle fordern
unisono
ihre
Essensration.


Auch Lisa hat Hunger, aber sie muss sich der Tatsache stellen...
Kein Geld, kein Brot, keine Chance!

Sie erinnert sich an einen Satz, den ihr Großmutter, mit dem Kopf hin und her wiegend, sagte:

„Es ist alles oder nichts. Und das Gegenteil von allem... ist nichts!”

Die Gänge des Gefängnisses sind lang, auch ein bisschen ekelerregend, bemerkt Lisa. Sie bevorzugt es, nicht zu sehr daran zu denken... Sie steckte bereitwillig ihre zehn Finger in die Nase... Aber sind das denn Manieren?

Viele Kilometer rohen Eisens boten sich der Unbekannten dar. Einzig der Rost schien sich für die Kahlheit entschuldigen zu wollen. Wer aber traute sich über ein bisschen Wärme an diesem Ort ohne Intimität und sogar ohne Friedensgefühl nachzudenken?

Und diese Schar von Tattoos, die sich mit dem Schweiß ihrer Träger vermischten.

Lisa läuft sicherlich viele Stunden... Aber es ist nicht vergeblich! Denn sie trifft endlich den kleinen runden Mann in 102. Er sagt ihr vielleicht wichtige Dinge?


Jedesmal ist sie überrascht...

Weder erscheinen Barrieren, noch ein böser Schieber, der kommt, um sie zu ärgern, nur ein kleiner sehr karierter Teppich, auf dem sitzt (in einer komischen Position, muss man sagen), ein bisschen wie eine Melone, ein Fakir. Er scheint mit einem Nimbus der Güte umgeben zu sein.
Der Mann ist genauso still wie der Andere sich ausgekotzt hatte als er sprach. Nicht der vom Friedhof, sicherlich, dieser war perfekt!


Der Andere... Der Bucklige,
der griesgrämige
Häftling.


„GUTEN TAG, SAGT LISA, ICH SUCHE JEMAND 'SELTENES'!”

„Du hast es vor dir”, sagt der Mann. „Sie heißt Kolia. Sie ist hier aufgewachsen und wird auch hier ihr Leben beenden...”

„Aber ich weiß! Es ist eine Maus”, sagt das kleine Mädchen. „Und sie wird lange leben, sie ist sehr intelligent!”

„Ohne Zweifel...” antwortete der gerührte Mann. „Du suchst also jemanden, der die ganze Zeit redet?”

„Er redet nicht mehr seitdem es heiß ist, er ist aus seinem Haus verschwunden ohne ein Wort zu sagen”, antwortet Lisa. „Loup und ich, wir schliefen wie Murmeltiere, verstehst du, es war bitter Kalt, sicher, er hätte warten können, aber er wusste nicht, dass wir ihn überraschen werden... Wissen Sie, er schreibt. Er könnte mir Geschichten erzählen, sogar ganz spät! Ich leide in der Nacht unter Schlaflosigkeit...”

(Aber Lisa schaffte es nicht, ihren Redestorm zu unterbrechen.)

„Langsam!...” unterbricht sie der Mann, „langsam! Du kannst dir Zeit nehmen!” (Aber er ignorierte es, dass ihn Lisa schon so lange suchte!)

Der Mann erzählt ihr, dass er Buddhist sei, dass er den momentanen Augenblick lebte und dass er auch „weise” sei! verwundert sich Lisa.
Sie fragt ihn, ob es das Gleiche wäre wie „schmollen” sei?...

„Weißt du... in seiner Ecke bleiben, was! Ein Buddhist ist der Spezialist des 'Schmollens' genau wie der Raucher, ein Spezialist des 'Rauchens' ist!!! Aber Oma sagt, dass es hässlich ist, sich Teer in den Kessel zu machen...”

„Wie lustig das ist”, sagt der Mann schallend.
„Nein Lisa, das verhält ein bisschen anders!”

„Ach so, ist es also nicht das!?! Also egal”, sagt Lisa, die errötet.

Selbst wenn uns das seltsam vorkommt, der Mann wird niemals aus dem Gefängnis gehen, weil er dort gut ist und sich frei fühlt, wo er ist! So ist es.

„Und noch dazu hat er seine Maus Kolia”, denkt Lisa, „sie hat ihre ganze Familie, die Asyl neben diesem zärtlichen Mann, dem das Draußen egal ist, gefunden hat.”

Er erzählt ihr kurz und bündig vom gleichartigen Gebrülle.
(Sie haben noch Zeit!)

Der Weise erklärt Lisa mit einfachen Worten (und nicht gedrechselt) seine saubere Eingeschlossenheit (wie er behauptet.)

„Er hatte die Gelegenheit mit dir zu entkommen, Lisa, aber während er sich weigerte, mit dir zu sprechen, sich nur um seine Füße kümmernd, hat er dir seine Eingeschlossenheit erklärt... Er braucht keine Barrieren, keinen Käfig, auch keine Schlüssel, man muss sich manchmal hinsetzen und man sieht sicher mehr als die Nasenspitze, man muss es nur glauben...”

„Ich habe eine Nase, die mich juckt...” begeistert sich Lisa, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass sie ihn unterbrochen hatte, „wenn ich etwas fühle, das mir sagt: ich erkenne es!!!...”

„Lisa”, nimmt der Mann, der sich niemals ärgert, wieder auf, „Lisa, man muss lernen zuzuhören ohne zu unterbrechen.”

„Ich weiß”, sagt Lisa, ganz zerknirscht. „Aber, es ist wie Loup, der ich ist, und ich, der Loup bin, der manchmal nicht hört! Können Sie Geschichten erzählen?” fragt sie mit leiser Stimme.

„...” „Er dürfte nicht mehr weit sein, den den du vergeblich suchst. Du musst deine Suche fortsetzten”, sagt der Mann mit einem Atemzug. „Lisa, hör mir gut zu. Gehe dort hin, wo dein Herz dich hinführt, es ist immer der Beste aller Wege. Und nun, renn und drehe dich nicht mehr um! Schaue weit vor dich, behalte die Augen weit offen...


UND WISSE,
DASS DAS WASSER DES FLUSSES IMMER
EINEN GROßEN BRUDER HAT.”

Der Mann hat die Augen geschlossen und, schneller als ein Blitz, sich mit einem Taschenspielerkunststück vom Boden abgehoben.

Lisa hatte Angst vor dieser magischen Art!!! Aber vor einem solchen Spektakel, viel schöner als ein Regenbogen, verrückter als Popkorn, das weint, wenn es besoffen ist, geht sie mit kleinen Schritten und verspricht Loup zu sagen, was sie dort gesehen hat!

Aber da! Loup ist nicht da!

Weder
er noch seine ganzen Begleiter,
die alle verschwunden waren, als die Polizei kam...
Und auch keine Verabredung!
Weil sie geflohen sind
ohne auch nur einmal
Sorry zu sagen!

Lisa hatte keine Ahnung, von dem Ort, an dem sie sich versteckt halten könnten!
Das Haus des Mannes, der lange redet, was zur Zeit, sehr sehr weit weg vom Gefängnis, die wie sie, sehr sehr weit von dem Haus entfernt war...

Sie geht also in eine zielsichere Richtung, die nicht einmal einen Namen hat, wie eingeladen von einem Wind, der sie weich drückt, ohne andere Absicht, als ihr beim Laufen in eine Richtung, zu helfen.

Lisa wusste noch nicht, dass ihre Intuition sie ganz natürlich an dem Kragen ihres Pullovers zog, wie Tausende von Luftballons, die Worte von JÉSULLE transportieren.

(Oder so was Ähnliches?)

JESULLE-GESTIKULIERT...
waren zwei Worte, die Lisa mit der Tatsache assoziierte. Sie hatte es am Heiligabend gehört, als sie mit ihrer Oma spazieren war, ein „PREDIGER”, der ein bisschen Angst macht!

Aber dieser Mann der Kirche, der nach Süßholz roch, war nicht ausreichend beunruhigend, denn er mochte die iranische Frau! ("le zan" im Original, Anm. P.M.)

Dies ist es auf jeden Fall, was Lisa schlussfolgerte.
Als Ausgleich,
war er ein bisschen „erleuchtet”,
besser gesagt sehr, sehr, sehr
bewegt!

„Dieser Mann da, siehst du... sät die 'GUTE SPRACHE'”, lehrte sie die Großmutter, die die Fürbitten nicht mochte... zu hysterisch.

„Er sät die gute Sprache?” fragte sie Lisa, die das komisch fand.

(Ihre Großmutter, offensichtlich, war dieser Lehre nicht speziell zugeneigt, die sie als ein bisschen zu „schrill” beurteilte. Ein bisschen zu militantisch!)

„Siehst du Lisa, man braucht Zeit, dass sich jeder eine Idee vom Sterben macht. Und doch diese Quelle des Kummers? Man muss sich an der Hand nehmen, den anderen begleiten so gut wie man kann, ohne einen Ausweg aus der Ansprache.”

Sie nahm sich also Zeit, um ihre Zähne wieder zusammenzustellen...
(Großmutter hatte ein Gebiß, dass nicht immer gut angeklebt war!)

„Das 'GUT'”, nimmt sie wieder auf, „ist in allen von uns... Es liegt an uns, zu lauern, es zu säen und es zu kultivieren.”
(Es war ein sehr weicher Gedanke.)

Und Großmutter hatte Recht... Lisa spürte es, denn ihre Nase juckte!


DIE RELIGION SCHEINT EINE BÜRDE ZU SEIN,
DIE DIE VERRÜCKTEN NOCH VERRÜCKTER MACHT,
DIE MEHR ALS EINEN VERRÜCKT MACHT...
DIE FÜR MANCHE ALLES IST,
DIE SICH VERIRRT HABEN!

Aber, weil Lisa getauft ist, ist es normal, dass sie jeden Sonntag zu Vater Dition (welch ein komischer Name) geschickt wurde, um sich mit der BIBEL vertraut zu machen:

EIN nicht gewöhnliches MÄRCHEN,
aber sicher weniger lustig
als ein Wörterbuch!



Sie ging also ganz einfach in die Schule zum Religionsunterricht, wo sie lange die Schulbank gedrückt hat.
Sie hat davon ihren drei Freunden erzählt, hat angegeben mit ihrer Nähe zu einem rohen Giganten, der die Luft und mehr gegründet hat!

Das
Ungeheuer war langgliedrig,
das Mädchen
die Höchste der Stadt!

Sie hofft, dort ihre Freunde zu finden. Aber es war der Richtige Weg, den sie hatte einschlagen müssen durch einen brutalen Gedanken...


WARUM WAR LOUP NICHT MEHR AN IHRER SEITE?

Er, der ihr Schatten sein sollte!
Ihre Hälfte!
Ihr Halbschatten!

Er ist ihr nicht ins Gefängnis gefolgt (aber auch die Sonne tritt dort nicht ein)... Also????
Sicher! Die Sonne! Draußen war diese durch Wolken versteckt im Gefieder, die die großen Bauern in Rage bringt!

ES LANGTE ALSO IN DIE LUFT ZU SCHAUEN,
UM DAS MYSTERIUM ZU BRECHEN!


Abschnitt 11
Zum «Lisa-Loup.»-Inhaltsverzeichnis
 
Mylène FArmer