Anmerkungen zu «Que mon cœur lâche»
von Michael Kuyumcu


Gott (sitzt über den Wolken zeitungslesend an seinem Schreibtisch): Jesus Christ!
Jesus (taucht mit gefalteten Händen auf): Yes, Sir?
Gott (leicht genervt): It’s nothing. It’s just an expression they have down there.
(Spricht in ein Funktelephon): Send me your best angel for a delicate mission.
Engel (erscheint walkmanhörend und mitsummend, bleibt dann vor IHM stehen)
Gott (räuspert sich, verdreht die Augen nach oben)
Engel (reagiert nicht weiter)
Gott (bestimmt): Take this walkman off!
Engel (pfeift unbeeindruckt weiter)
Gott (schon bestimmter): Please... take this walkmann (energisch) OFF!
Engel (schrickt auf, nimmt die Kopfhörer abrupt ab, legt die Hände auf SEINEN Thron und stöhnt entnervt auf)
Gott: Fingers.
Engel (zieht die Finger ruckartig zurück)
Gott: Well. I would like you to go down to earth. I have the feeling, they have spoiled this beautiful and simple thing I’ve called... Love.
Engel (militärisch): Yes, Sir! (ab)
Jesus (erscheint erneut auf der Bildfläche): Father, why don’t you send me?
Gott: Pfhhh. Last time it was a disaster...

Diese weisen Worte leiten Mylène Farmers neuestes Video augenzwinkernd ein.

„Ganz schön brutal” – so beginnt der Text zu Mylènes Lied „Que mon cœur lâche” (erschien Dezember 1992), und „ganz schön brutal” wird sich wahrscheinlich auch die Michael Jackson-Imitation gedacht haben, die im Videoclip zum Lied auftritt und mitten im schönsten „sexy” Gesteppe von einem meterhohen Kreuz erschlagen wird. So trocken wie diese humorvolle Einlage kommt das Lied selbst allerdings nicht daher, und eigentlich ist der Anlaß für dieses Lied, die Gefahren durch AIDS und die dadurch erforderlich gewordenen Schutzmaßnahmen bei häufig wechselnden Geschlechtspartnern nämlich, ja auch gar nicht mal so zum Lachen. Daß die schönste Hauptsache der Welt durch ausgebuffte Viren zu einer der gefährlichsten werden kann, haben die Erfinder der Liebe sicher nicht vorausgesehen.

Die Vorstellung eines vom Himmel fallenden Kreuzes gibt wohl die Meinung vieler sexuell sehr konservativ eingestellter Menschen wieder, die AIDS für Gottes Antwort auf die Promiskuität der ach so aufgeklärten „Sünder” halten. So würde dann Gott, im Video provokativ körperlich, als Person und über den Wolken sitzend dargestellt, endlich dafür sorgen, daß die einzig richtige Auslegung seines Heiligen Wortes, die natürlich die Moralisten noch besser als Er selber kennen, sichergestellt wird. Zwar kann Gott nicht verhindern, daß sich die Menschen weiterhin hemmungslos ihren Vergnügungen miteinander im Bett hingeben (wieso kann er das eigentlich nicht? Ist er nicht allmächtig?), aber er kann jedenfalls dafür sorgen, daß der unbedachte Sex nicht ohne Folgen bleibt. Je mehr Vertrauen man völlig Fremden entgegenbringt und je tiefer man sich auf sie einläßt (so oder so), je mehr man also seinen Nächsten liebt, desto gefährlicher ist diese Liebe, geradezu vergiftet („Amour poison”). Also würde Gott, in der Logik dieser selbsternannten Moralwächter, den Menschen, die ihre Nächsten lieben, eine Krankheit auf den Hals gehetzt haben… Das alte Gebot Gottes müßte also etwas erweitert werden: „Liebe Deinen Nächsten, klar, Mensch, hau ’rein, aber wenn Du nicht daran verrecken willst, dann laß Dir schwarz auf weiß einen AIDS-Test vorlegen, der nicht älter als ein paar Stunden ist… Oder, mach’s Dir doch einfach, Mensch, bleib einfach immer nur einem treu, wenn es schon sein muß. Geht doch nichts über Einehe, lebenslänglich, was?!”

Wäre das die Lösung? Oberflächlich gesehen vielleicht schon. Aber was ist dann mit gleichgeschlechtlicher Liebe!! – sind nicht die Schwulen die wahren AIDS-Schleudern? Fakt ist ja wohl, daß prozentual weit mehr Homosexuelle AIDS-infiziert sind als Männer der heterosexuellen „Normalbevölkerung”?? Also? Klar, wenn wir es diesen Rache-Anhängern recht machen wollten, würde auch die Liebe zwischen Mann und Mann und Frau und Frau verboten werden müssen. Überhaupt – sollten wir nicht dafür sorgen, daß alle HIV-Infizierten, die sich durch ihre Krankheit vielleicht gezwungen fühlen, nun permanent positiv zu denken, aus der Gemeinschaft der Gesunden, der Vernünftigen, der moralisch Anständigen, der Gläubigen, ausgegrenzt und ausgegliedert werden? Gab es nicht in Bayern (…) sogar Überlegungen zu speziellen Isolationslagern für AIDS-Kranke? Ich denke, der Videofilm schlägt, trotz des traurigen und ernsten Themas, die Verfechter einer solchen Anschauung mit ihren eigenen Waffen. Ein so unbedarftes Gottes- und Liebesverständnis, wie es im Film dargestellt wird, paßt hervorragend zu den „Sittenwächtern” und Saubermännern, die in der körperlichen Liebe, wenn sie nicht zu Fortpflanzungszwecken betrieben wird, immer noch etwas Unmoralisches, Anstößiges, Schmutziges sehen: Liebe, na, schön und gut, aber ein paar Bedingungen müssen schon erfüllt sein: 1) Nur zum Kinderkriegen, 2) Nur von Angesicht zu Angesicht (wo bliebe denn sonst die Würde?? Ja, wo bliebe sie denn? Würde sie sich dann etwa in „Würze” verwandeln?) und 3) Ohne Verhütungsmittel – soll heißen: natürlich, wie Euch Gott erschuf. Letzteres heißt natürlich: AIDS-gefährdet, aber wen es trifft, der hat es ja schließlich auch verdient. Oder?

Oder. Denn was ist mit der Ehefrau, die von ihrem Mann, der fremdgegangen war (soll in den gläubigsten Ehen vorkommen, habe ich mir sagen lassen. Vielleicht gerade dort?), angesteckt wird? Selbst schuld? Klar, wenn ihre Menschenkenntnis nicht ausreichte, um einen treueren Partner für sich auszuwählen… das sehe ich ein. Inzwischen ist es aber leider nicht mehr so, daß ausschließlich Schwule und Fixer einander anstecken, und das liegt wieder einmal an natürlichen Gegebenheiten: Frauen nämlich sind durch ihre körperlichen Merkmale – da bei ihnen der unter Umständen Krankheitserreger enthaltende männliche Samen konzentrierter wirkt als bei Männern – wesentlich anfälliger für eine Infektion und damit auch potentiell emsigere Verbreiterinnen. Auch diese Tatsache hat dazu geführt, daß in manchen afrikanischen Dörfern und Städten, in denen traditionell häufiger die Geschlechtspartnerinnen gewechselt werden, schon mehr als die Hälfte bis zu zwei Dritteln der Bevölkerung infiziert sind. Dies hat dort damit zu tun, daß die Frauen eine schwache Position gegenüber Männern haben und deren Macht, das heißt auch: sexuellen Verfügungsgewalt, unmittelbarer unterworfen sind als etwa in Mitteleuropa. Die Argumentation der Seelenhüter und Glaubensapostel wie auch der Gegner der Freien Liebe beißt sich selbst in den Schwanz.

So betrachtet kann man Gottes Anspielung im Prolog des Videoclips (Desaster...) auch so auffassen, daß die heutigen Zustände – „der moralische Wildwuchs” – nicht etwa nur ein Produkt der „Verdorbenheit” des aufgeklärten modernen Menschen, sondern vielmehr das Resultat der kirchlichen Verdorbenheit ist. Dies zeigt sich leider nur allzuoft, wenn der Oberhirte aus Rom, der Papst, seinen Mund auftut, um damit ungefragt seinen Senf zu heißen, häufig allerdings eher weniger heißen, Themen dazuzugeben (bedenken Sie, wie zweitausend Jahre altes Essen schmeckt... es versteinert langsam). Seine... öh... althergebrachte Ansicht zur Verhütung beispielsweise zeitigt insbesondere in ärmeren Ländern bemerkenswerte „Erfolge” – nirgendswo ist die AIDS-Rate so hoch wie dort, wo man auf die „klugen” Ratschläge des Megapfaffen hört.

Aber gehen wir doch einmal auf den Text zum Lied etwas genauer ein: „Ganz schön brutal/ Das Amalgam/ Der Körpertanz/ Die Liebe stirbt ganz”. Mit dem „Amalgam” ist, denke ich, zum einen die Vermischung, Vermengung, Verquickung der Körper gemeint, die sich, ineinandergeknotet, dem Liebesspiel hingeben, und zum anderen das Gummi, das verantwortungsbewußte Liebhaber am Anfang einer neuen sexuellen Beziehung überstülpen: das Kondom. Brutal, weil die beabsichtigte Nähe und das totale Gefühl dabei auf der Strecke bleiben können, wenn man es so empfinden will. Brutal aber auch, weil im weiteren Sinne die Liebe, das uneingeschränkte Aufgehen ineinander, die Vereinigung auch auf der körperlichen Ebene, pervertiert wird. Es haben ohnehin genügend Menschen Hemmungen, aufeinander zuzugehen und sich zu lieben. Die Hemmschwelle wird durch die damokleshaft über allem schwebende Gefahr einer Ansteckung nun auch noch erhöht. Wie sollen denn die Menschen zusammen kommen, wie sich einander hingeben, wenn sie solche Sicherheitsmaßnahmen zu beachten haben („safer sex” meint keinesfalls Liebe im Tresor). Brutal ist durch diese Hemmungen auch ganz allgemein der Tanz der Körper geworden und daß die Liebe gestorben ist.

„Die Liebe: Gift/ Wo sie trifft/ Die Angst senkt sich/ Auf unser Herumtollen” – Das Aufeinanderprallen der Körper kann im Endeffekt tödlich ausgehen. Das Sperma oder das Eindringen in die Frau, gleichwo, kann „Gift”, also den AIDS-Erreger auf Mann und Frau übertragen. Das erinnert mich an ein Gedicht, das ich mal irgendwo geschrieben habe:

Moderne Kontaktanzeigen

I
Liebe mich im Gras und nackt!
Wenn nach dem Geschlechterakt
Laut der Geigerzähler knackt –
Hatten wir Naturkontakt.

II
Nimm mich, Fremder, bloß und fest!
Wenn Dich dann der Gummitest
Positiver denken läßt –
Küß und nimm den Samenrest.

Daß sich unter solchen Umständen Angst breit machen und drohend auf der Liebe lasten kann, ist verständlich. Daß diese Angst allerdings von schäbigen Boulevardblättchen, „Unterhaltungszeitschriften” für die unterforderte Hausfrau und reißerischen Fernsehsendungen ausgeschlachtet wird, ist hingegen nicht verständlich und genauso verantwortungslos wie die zweimalige Benutzung von infiziertem Fixerbesteck. Überhaupt sind Drogen im Schlepptau der AIDS-Diskussion willkommene Sündenböcke, und die Drogenkonsumenten erst recht. Herrlich, wie man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann… Die Gesellschaft wittert die Gelegenheit, gleich zwei Übel (=Randgruppen) auf einmal auszumerzen: Wilder Sex (und damit auch gleich die Wilden Ehen, seit jeher schon ein Dorn und Balken im Auge) und Drogenkonsum. Solche aufmüpfigen Sprüche wie „Wer zweimal mit der gleichen pennt/ Gehört schon zum Establishment” hätten sich damit endlich ihr eigenes Grab geschaufelt. Wie praktisch! Daß die Gesellschaft vielfach einfach eigene Charaktermängel auf Sextreibende und Junkies projiziert, wird gar nicht gerne wahrgenommen. Denn das machen ja immer nur die „anderen”.

Aber weiter im Text: „Du zwischen uns/ Kautschuk/ Du mischst Dich ein/ In unsere Liebelei’n” – Hier ist der Bezug auf das Präservativ noch deutlicher, und wenn in der ersten Strophe mit „Amalgam” auch ausschließlich die Vermengung der Körper gemeint gewesen sein sollte, so sind an dieser Stelle deutlich die Pariser angesprochen. So ganz unbeschwert geht die Liebe mit einer solchen lästigen Schutzhülle freilich nicht mehr vonstatten – aber hat jemals wer gesagt, es würde leicht werden? Na also. Allein die Tatsache, daß das Eindringen als eigentlicher Geschlechtsakt nun in einem gewissen Sinne „geplant” werden muß (zumindest der genaue Zeitpunkt), kann die Stimmung in einem solchen Moment deutlich herunterziehen. „Verdammt, wierum muß man das Ding anlegen?”, „Jetzt rollt das Scheißding schon wieder nicht ab!”, „Hast Du das Loch da ’rein gestochen?”, „Huch, wo ist das Ding denn geblieben? Mist, ich glaube, das steckt noch drin…” und ähnliche drollige Nebeneffekte stellen sich unvermutet ein. Aber alles hat eben seinen Preis. Von 50 Pfennig bis 2 Mark das Stück.

Doch ist allein schon der Anblick eines solchen „Gerätes” nicht unbedingt jedermanns Sache. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat sich die Industrie auch prompt einige Variationen einfallen lassen: ob im traditionellen hautfarbenen Glatt-Look, im konservativen Doppelripp-Design, für den winterlichen Verkehr mit Spikes und Schneeketten oder für das romantische Paar mit aufgeprägten Venusfliegenfallen – für jeden Geschmack ist etwas dabei. Apropos Geschmack: auch für echte Feinschmecker gibt es schon seit längerem aromatisierte Ausführungen: Himbeer, Zitrone, Pflaume oder Eichel – nahezu jede Geschmacksrichtung ist vertreten. Und weil das Auge bekanntlich mitißt, gibt es das alles auch farbig: Signalgebend rot, beruhigend grün, naiv blau oder morbide schwarz (abgesehen von den exotischen Variationen wie die Farben der Nationalfahne, Motto: Keine Kinder für den Staat!). Einzig fehlend ist die mangelhafte Ansprache der auditiv eingestellen Bevölkerung. Kondome, die kieksen, Präser, die stöhnen oder irgendein zotiges Lied anstimmen, lassen noch auf sich warten. Dabei gibt es doch schon seit langem etwa auch singende Glückwunschkarten. „Alles Liebe”, sozusagen.

„Das ist nicht einfach/ Das Vergnügen/ Sich (zu) gewöhnen an/ Deinen glasierten Körper” heißt es darum auch in der nächsten Strophe. Es kann zugegebenermaßen auch schon etwas merkwürdig aussehen, wenn das mit Neonfarbe bemalte Kondom durch den nachtschwarzen Raum hüpft und wackelt… so gesehen zuletzt im Film „Skin Deep”. Aber das nur nebenbei.

Der Refrain des Liedes versteift sich im folgenden darauf, auf diesem Aspekt noch etwas herumzureiten und dabei die Aussage der ersten vier Strophen zu verallgemeinern. „Mein Herz erschlafft / Meine exzentrischen Träume von der Liebe/ Haben ihren Straß verloren / Mein Liebes-Streß ist so fad”. Die Enttäuschung und Resignation über die Einschränkung der Freiheit in der Liebe klingt hier deutlich durch. „Mein Herz erschlafft/ Doch tu mir weh/ Mißbrauche die Bande und Lilien” – „Jetzt erst recht”, so wirken diese Zeilen auf mich. Lieber voll befriedigt sterben als Halbherziges hinzunehmen. Das mag vielleicht schön sein, aber gefährlich ist es in jedem Fall.

Es mag vielleicht verwundern, was die „Lilien” hier zu suchen haben. Lilien sind auch wegen ihrer Weißheit traditionell ein Symbol für das Reine, Unbefleckte und, im übertragenen Sinn, auch für die Vereinigung von Mensch und Gott, Erde und Himmel, als eine Art Handreichung und Verbindung etwa. Die Vereinigung und das Zusammenkommen haben nicht nur im Deutschen zweifache Bedeutung. Zum Sex sagen auch Amerikaner gern „come together”, Deutsche „zusammen kommen” (Achtung: Leerzeichen!), und Franzosen kennen das Verb „venir” (kommen) auch in beiden Bedeutungen.

Zu der Lilie, die in ihrer stilisierten Form (s.o.) das Emblem der französischen Könige seit 1147 ist („Fleur-des Lis”), fällt dem unentbehrlichen Heyne Symbol-Lexikon folgendes ein:

„Dem Gegensatzpaar von Gott und Teufel entspricht in der christlichen Lehre das Bild von der Heiligen und der Hure. Die körperliche Liebe wurde von der christlichen Mystik begriffen als Fessel an das irdische, trügerische Dasein. Der Sinn der Abkehr von der Sexualität mag aber über die Jahrhunderte hinweg verlorengegangen sein, und zurück blieb eine Verteufelung der Lust, die nicht zuletzt das Verhältnis der Geschlechter zueinander über die Maßen vergiftete. ... Wenn von der Jungfrau Maria gesagt wird, sie sei ohne Sünde gewesen, so bedeutet das, Maria verlor sich nicht in der körperlichen Liebe, sondern blieb bei sich selbst. Als Braut Gottes, die einen Sohn gebar, befand sie sich im Zustand der Gnade und der Weisheit, in dem die Trennung von Mann und Frau in zwei unversöhnlich einander entgegengesetzte Wesen kein Platz mehr hat. Ihr Symbol ist die Lilie, als Zeichen der vollkommenen Liebe, die in der Vereinigung von Gott und Mensch.”

„Die Zeiten sind schlaff/ Der Liebe geht’s schlecht/ Die Zeiten sind Plastik-Liebe” setzt der Refrain fort, und bei der Künstlichkeit, mit der einige Produkte verkauft werden (Mäntel in Plastikhüllen, Milch in Plastikhüllen, Käsescheiben in Plastikhüllen, männliche Glieder in Plastikhüllen… Wir leben nicht nur im Zeitalter des Gehirns, sondern auch der Plastikhüllen!) ist dies leicht nachzuvollziehen.

Wie kam das alles nur zustande? Sieht es nicht ganz so aus, als sei die Plage AIDS und die einhergehende Angst ein Werk des Teufels, irgendeines bösen Engels? Diese Frage stellt Mylène in der nächsten Strophe. Das erinnert mich an so eine obskure Theorie, nach welcher der AIDS-Virus im Auftrag von Ultra-Konservativen in Gen-Laboratorien irgendwo auf der Welt entwickelt wurde, um die verkommene Welt wieder auf den rechten Weg zurückzuführen… Die Überbevölkerung bekäme man so auch einigermaßen in den Griff, oder? So zynisch diese Gedankenspiele auch anmuten – sie wurden bisher weder bewiesen noch widerlegt. Mit einer ebensolchen Wahrscheinlichkeit hat das vielleicht auch ein „böser Engel auf Abwegen” angerichtet.

Und so ist das Lied auch ein Gedankenspiel über einen Engel, der auszog, die Freiheiten der Liebenden zu kasteien. Im Video wird der Bezug zu Engeln noch viel deutlicher: Mylène kommt walkmanhörend und kaugummikauend zum Thron Gottes, und erst, als sie den Kopfhörer absetzt, kann sie seinen Auftrag verstehen und ausführen: Sie kommt als Engel (an einer Feuerwehr-Stange herunterrutschend) auf die Erde. Überhaupt finde ich das gesamte Video außerordentlich witzig umgesetzt. Im weiteren Verlauf der Handlung knallt das schon erwähnte meterhohe Kreuz auf den Michael Jackson nieder (dies übrigens – als kleiner, aber umso boshafterer Seitenhieb – als „amour plastique“ gesungen wird), und sie beobachtet als Engel verschiedene Menschen, die durch eine von „Gorillas” bewachte Tür gehen. Einer der Bewerber wird barsch abgewiesen und greift sich ein an der Wand hängenden Sauerstoffspender, den er sich hastig auf die Nase drückt. Der Spender erinnert an die Sauerstoffmasken, die in Flugzeugen im Falle eines Druckabfalls herunterpurzeln. Außerdem wirkt die ganze Szene auf mich, als bediene er einen öffentlichen Münzfernsprecher.

Der Engel tritt schließlich auch durch die Tür und ein in eine gänzlich andere Welt. Dort erwartet ihn ein enger Gang, flankiert von halbdurchsichtigen Gaze- und Seidenschleiern, hinter denen seltsame Nachtschatten-Gestalten nach ihm die Hände ausstrecken, ihn berühren wollen, betatschen, streicheln, sich an ihm reiben. Die Menschen in diesem Tunnel, in einer schwülen Atmosphäre, die mich an einige Erlebnisse aus dem Berliner Nachtleben erinnert, sind weder als eindeutig männlich noch als eindeutig weiblich zu erkennen – sie wirken zwitterhaft, nicht Fisch noch Fleisch, androgyn. Sie sind stark geschminkt, und der Zuschauer kann nicht mit Sicherheit entscheiden, ob sich nun Mann an Mann oder Frau auf Frau reibt.

So wirkt das Video auf mich, als solle suggeriert werden, AIDS erzeuge eine Art Zweiklassengesellschaft. Liebe ist in dieser Welt nur denen vergönnt, die „sauber” sind, das heißt: keim- und krankheitsfrei und daher auch Zutritt erhalten. Die anderen müssen sich mit Technik begnügen, mit Sauerstoffmasken oder allgemein mit Hilfsmitteln. Diese Gefahr der Ausgrenzung ist sicher im Denken einiger Menschen manifest – jemand, der nur ungenügend über Ansteckungsgefahren informiert ist oder eine restriktive Erziehung „genossen” hat, wittert hinter AIDS-Kranken vielleicht Todesgefahr oder gar den Untergang des Abendlandes.

Die letzte Strophe legt den Verdacht nahe, daß dies Lied aus der Sicht eines/einer Infizierten geschrieben ist, oder von jemanden, der sehr besorgt ist, daß er/sie sich anstecken könnte: „Mir armem Teufel/ Geht’s schlecht/ Liebes-Schwindel/ verwundeter Liebe”. Der Schwindel, das Taumeln, kann sich auf die Ausweglosigkeit der Lage beziehen, in der sich das lyrische Ich befindet, oder auch auf die Körperempfindungen nach einer Ansteckung, wenn das Immunsystem zusammengebrochen ist und jede ordinäre Erkältung lebensbedrohlich wird. Das Fieber, das sich bei einer Erkältung einstellen kann, wäre dann für das erwähnte Schwindel-Gefühl verantwortlich. Die „verwundete Liebe” bezieht sich möglicherweise darauf, daß AIDS besonders über offene Wunden im und am Körper übertragen wird. Mit bloßem Anschauen oder Händchenhalten ist es eben nicht getan.

In den diversen Schleimhautbereichen des menschlichen Körpers können durch Überdehnung (beispielsweise beim Eindringen) oder durch „Handgreiflichkeiten” jeder Art mikrofeine Risse entstehen. Normalerweise sind diese kleinen Wunden kein Problem für den Körper, denn er läßt sie schnell wieder verheilen. Zugleich sind diese Wunden aber auch die Eintrittspforten für Viren in den Organismus.

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