Anmerkungen zu «California»
von Peter Marwitz, 2000/2004


Selten zuvor war der persönliche Bezug, den ein Lied von Mylène Farmer zu ihr und ihrem Leben hat, augenscheinlicher als bei «California», der dritten Single des «Anamorphosée»-Albums. Wer ein wenig Mylènes Lebenslauf verfolgt hat und ihre Interviewaussagen aus dieser Zeit (1995/96) kennt, weiß vermutlich, daß sie Frankreich nach dem Mißerfolg des «Giorgino»-Films für eine Weile den Rücken kehrte und einige Monate in Los Angeles und New York verbracht hat (um ganz exakt zu sein, hielt sie sich auch bereits vor «Giorgino» des öfteren in den USA auf). Dies erkennt man nicht nur an dem veränderten, rockigeren Sound ihrer Musik, sondern Mylène erzählt es uns ganz offen und direkt in ihrem Text zu «California».

Daß der Text mit ungewöhnlich vielen englischsprachigen Ausdrücken gespickt ist, dürfte selbst dem nur flüchtigen Zuhörer vor Augen und Ohren führen, daß die Zeit in den Staaten nicht spurlos an ihr vorübergegangen ist. Der Text ist bei genauer Betrachtung in zwei Teile gegliedert, in zwei Thematiken, wenn man so will. Die erste Strophe handelt primär davon, wie sie die „alte Welt” (Europa, Frankreich) per Flugzeug verläßt und ihre ersten Schritte in der „neuen Welt”, also in Amerika macht. Sie empfindet den Aufenthalt in ihrer bisherigen Umgebung als Last, «schwerfällig», und beschließt deshalb, den «Exit zu nehmen» und sich von hier, ihrem alten Leben, zu verabschieden. Diese Veränderung wird von ihr als überlebenswichtig empfunden, weil der bisherige Trott sie zu lähmen, ja sogar zu töten droht («ich sterbe zwischen Apathie und Schwerfälligkeit»). Zumindest auf kreativer Ebene bedeutet Stillstand und Verharren ja oft sowas wie den künstlerischen Tod, selbst wenn manche Band trotzdem noch jahrelang genauso weitermacht, wie sie’s gewohnt ist, ohne zu merken, daß sie sich nur noch endlos wiederholt und eigentlich eine dringende Frischzellenkur vonnöten wäre. Mylène erkennt diese Gefahr rechtzeitig und bricht folgerichtig zu neuen Ufern auf, um sich durch dieses Ortswechsel ein wenig «verschieben», «aus der Bahn werfen» zu lassen – denn nur wer vom Weg abkommt, bleibt nicht auf der Strecke... Es ist natürlich programmatisch und kein Zufall, daß «California» das erste Lied auf dem «Anamorphosée»-Album darstellt und dem Hörer damit die bereits im Titel angesprochene Entwicklung, die Verwandlung, die „Anamorphose”, der Künstlerin nahelegt. «California» bringt auf jeden Fall auch eine wiedergewonnene Lebensfreude und Unbeschwertheit von Mylène zum Ausdruck, und zudem schwingt in der ganzen Atmosphäre des Liedes, der Musik, des Gesangs viel Sinnlichkeit mit.

Nach dem etwas melancholischen Rückblick und Abschied trifft sie nun auf neue Eindrücke, die sie im Rest der ersten und der kompletten zweiten Strophe ausführlich schildert. Zunächst erscheint es mehr wie eine Aufzählung der aus Funk und Fernsehen bekannten handelsüblichen L.A.-Klischees, die Mylène uns da anbietet («Sun Set», «Freeway»...), doch wäre dies natürlich kein echtes Farmersches Lied, wenn sie es dabei beließe. Mit zunehmender Dauer des Liedes gewinnt sie eine differenziertere Sichtweise, die vom „alles so schön bunt hier”-Gefühl, das sie zunächst zu beherrschen schien, abzurücken beginnt. Denn insbesondere in der zweiten Strophe schleicht sich die (amerikatypische...) allgegenwärtige Gewalt und Kriminalität ins Bewußtsein. Zunächst via der Polizei, die ihr einen Strafzettel fürs zu schnelle Fahren aufbrummt, dann in massiverer Form von Drogen («Trip») und Rotlichtbezirken («Strip») und schließlich durch einen Revolver, der in ihren Händen ruht und dessen Wärme (was auf einen erst kürzlich erfolgten Gebrauch der Waffe deuten könnte) sie als «Symphonie» empfindet und die sie damit mit der «Wärme der Hingabe» vom Ende der ersten Strophe auf eine Stufe stellt. So bleibt unter dem Strich ein eher ambivalentes Fazit von Mylène, sie empfindet gleichzeitig Schwermut wie Freude über den «sexy Himmel» Kaliforniens.

Diese Ambivalenz finden wir auch in dem Videoclip zu «California» wieder. Nach den beiden doch sehr enttäuschenden und flachen Clips von Marcus Nispel zu «XXL» und «L’instant X» hat sie sich für dieses Lied an Abel Ferrara gewandt, einem amerikanischen Regisseur, der bekannt ist für seine kontroversen, nicht gerade gewaltarmen Filme (z.B. «Driller Killer», «Fear City», «Body Snatchers» (dt.: «Angriff der Körperfresser»), «Bad Lieutenant»). Mylène hatte sich lange bemüht, Ferrara dafür zu gewinnen, den Clip mit ihr zu drehen, am Ende ist es ihr gelungen, und wir können uns mit ihr darüber freuen, denn «California» ist endlich wieder ein Video mit einem gewissen Tiefgang und einer echten Story. Und damit ein Video, über das ein wenig zu schreiben und nachzudenken sich lohnt, kurz: ein RICHTIGES M.F.-Video.

Zunächst zur Handlung, für alle, die den Clip nicht kennen sollten. Mylène Farmer spielt hier zwei Rollen – zum einen eine Prostituierte, die man zu Beginn mit ihrem Zuhälter sieht, der sie dann zu ihrem „Arbeitsplatz“, einem Straßenstrich, begleitet. In der anderen Rolle ist Mylène die Frau eines offenbar wohlhabenden und angesehenen Mannes, mit dem zusammen sie in einem teuren Cabrio-Sportwagen zu einem Empfang fährt. Auf dem Weg dorthin fahren sie auch diesen Straßenstrich entlang und die Mylène im Auto sieht die Prostituierten-Mylène. Beide schauen sich ungläubig an, doch als die eine aus dem fahrenden Wagen steigen will, hält sie ihr Mann zurück, dem sie daraufhin eine Ohrfeige gibt. Der Zuhälter bedroht derweil die andere Mylène mit einem Messer, weil sie anscheinend nicht richtig bei der Sache – beim Aufgabeln von Freiern – ist. Bei der Gala wird der Mann der wohlhabenden Mylène von allen hofiert, während sie alsbald alleine herumsteht und sich sehr zu langweilen beginnt. Die Spannung, die sich schon seit Beginn des Clips in der Beziehung der beiden andeutete, wird hier einmal mehr deutlich. Die Frau geht nun auf die Toilette und zieht sich dort um, richtet sich etwas „nuttiger” her, knöpft das Kleid ein wenig auf und versucht sich, der Prostituierten, die ihr so aus dem Gesicht geschnitten war, anzugleichen. Passend dazu erfolgt nun ein Schnitt im Clip, die reiche Frau steht auf der Straße, sieht, wie der Leichnam der Prostituierten gerade von der Polizei zugedeckt und abtransportiert wird – möglicherweise hat sie ihr Zuhälter umgebracht, vielleicht auch ein Freier oder jemand anderes, das geht aus den Szenen (absichtlich, denke ich) nicht hervor. Der Zuhälter tritt jetzt neben die noch lebende Mylène und nimmt sie bei der Hand. Als sie in seiner Wohnung angekommen sind und er sie zu küssen beginnt, zieht sie eine Haarnadel (jedenfalls etwas sehr spitzes) und beginnt, wie wild auf ihn einzustechen...

Mylène selbst hat in einem Interview dazu geäußert, daß sie mit dem Clip die Gegensätze, diese zwei Gesichter von Amerika bzw. Kalifornien darstellen wollte, also wie nahe beieinander Reichtum und Armut in diesem Land (generell in den westlichen Industrienationen) liegen. Die Omnipräsenz der Gewalt im menschlichen Dasein, die ebenfalls aus diesen Bildern spricht, ist ohnehin ein Thema, mit dem sie und Laurent Boutonnat sich schon seit Anfang ihrer Karierre an beschäftigen, siehe beispielsweise die Clips zu «Sans logique» und «Pourvu qu’elles soeint douces» oder auch den «Giorgino»-Film. In diesem Punkt erinnert mich der Text ein wenig an das David Lynch’sche Road-Movie «Wild at heart» mit seiner unheilvollen Melange von unausweichlicher Gewalt und Hitze und Staub. Außerdem kann man den Clip so verstehen, daß in jedem Menschen verschiedene Rollen angelegt sind, vielleicht auch, daß manch einer (und wer von uns könnte sich da ausnehmen??) nach außen hin eine bestimmte, weithin akzeptierte Rolle darstellt, aber „im G
eheimen”, wenn er/sie für sich ist, ganz andere Dinge tut – ein vor allem in der amerikanischen Gesellschaft mit ihrer oftmals verlogenen, verklemmten Doppelmoral weitverbreitetes Phänomen, das auch von vielen Filmen thematisiert wurde, siehe z.B. das oscargekrönte «American Beauty».



Anmerkungen zu «California» von Iris Kyburz, Sep. 2000:

Wenn man Mylènes vielschichtige Texte kennt, kommt man sicher nicht umhin, etwas genauer hinzusehen, was im Lied auf der emotionalen Ebene abläuft.

Skeptisch, melancholisch, aber auch pessimistisch steht Mylène in der Abfertigungshalle, spricht vom check-out, also vom Aus-checken, dort wo eigentlich 'check-in’ der passende Begriff wäre. Natürlich klinkt sie sich mit der bevorstehenden Abreise effektiv auch aus dem alten Leben aus, aber in ihren Worten schwingen auch Unsicherheit und Ängstlichkeit mit. So spricht sie vom 'sicheren’ Check out’ wie vom 'vorprogrammierten Absturz’. Es lässt sich keine Vorfreude ausmachen, betont wird eher die Unausweichlichkeit, deren Gründe vorgehend ausführlich erläutert wurden. Der Vers 'Komme die Nacht und schlage die Stunde’ signalisiert eine gewisse Schicksalsergebenheit, ein Sichfügen in diese Abreise. In der Ausdrucksweise 'den Exit’ nehmen fällt wiederum die andere Optik auf, das Wortspiel, denn einerseits folgt man normalerweise dem Schild 'Exit’, um den Flughafen zu verlassen, andererseits bricht sie aus und auf, will Paris und ihre Lebensgeschichte, vielleicht ihre Lieben hinter sich lassen. Zwar werden weder Paris noch die Lieben/Geliebten mit keiner Silbe erwähnt, Mylène suggeriert uns dies aber, indem sie zwei Verse einbaut, die sehr nahe an das im französischen Sprachraum sehr bekannte Gedicht 'Le Pont Mirabeau’ des Skandaldichters Apollinaire anklingen. Der Pont Mirabeau ist eine der Seine-Brücken in Paris. Der Dichter sitzt melancholisch am vorbeifliessenden Wasser, sinniert über vergangene, mit dem Wasser verflossene Lieben/Geliebte, stellt fest, dass verflossene Lieben wie auch vergangene Zeiten unwiederbringlich dahin sind. 'Vienne la nuit et sonne l’heure/ le temps s’en va, moi je demeure’ (Komme die Nacht und schlage die Stunde, die Zeit vergeht, ich bleibe) stellt er etwas resigniert fest. Bei Mylène heisst es da: 'Vienne la nuit et sonne l’heure/ et moi je meurs’ (Komme die Nacht und schlage die Stunde/und ich sterbe). Zu erwähnen ist, dass 'je meurs’ (ich sterbe) bei Mylène und Apollinaires 'je demeure’ klanglich nur durch die kurze Vorsilbe 'de’ unterscheiden. Mit dem flüchtigen Streifen dieser Apollinaire-Verse holt Mylène für einen kurzen Moment diese schwermütige Stimmung in ihre eigenen Verse, zaubert Assoziationen, distanziert sich aber gleichzeitig, indem sie sagt 'und ich sterbe’, sterbe, wenn ich bleibe. Ihre einzig mögliche Lösung, der Wendepunkt im ganzen Lied, 'die Sichtweise ändern, den Exit nehmen. Abgang statt Bleiben.

Und unvermittelt begegnen wir einer neuen Mylène, der Mylène, die plötzlich entdeckt, dass sie liebt, dass sie lebt, dass ihr Ich existiert. Wo vorher Stimmungen vorgeherrscht haben (Blues, Melancholie, Apathie) sind es nun durchwegs sinnliche Wahrnehmungen: optische (Marlboro, das mir zulächelt), sensorische (die Wärme, die Haut) und akustische (wie eine Symphonie). Was macht eine Sinfonie aus? Ein harmonisches Zusammenspiel, Wohlklang, ein Ineinanderüberfliessen. Damit also vergleicht Mylène, was sie in L.A. antrifft.

Die Feststellung im Refrain 'unter meiner Haut habe ich L.A. in Überdosis’ erinnert an eine Droge. Bevor sich Mylène gänzlich dieser Droge überlässt, wirft sie einen kurzen Blick zurück auf ihr bisheriges Leben, das ihr unwirklich erscheint, 'anamorphosiert’. Aufgeputscht, aufgekratzt folgt ein Trip durch den Tag, die Nacht, bis dann am Morgen Müdigkeit und Sentimentalität die Oberhand gewinnen. Schön, wie Mylène in diesen Versen das Thema aus der alten Welt noch einmal aufgreift: 'Vienne la nuit’ (komme die Nacht). Darauf folgt jedoch nicht das unheilverkündende 'sonne l’heure’ (schlage die Stunde), sondern die einfache Erklärung mit dem Jet Lag. Dadurch färbt sich der Ausspruch eher zu einem herausfordernden 'Soll sie doch kommen’.
Schmelzen wie das Eis im Wasser, in rührseliger Stimmung am Ende des Trips, der Ekstase wendet sich Mylène an ein Gegenüber 'sag, meine Liebe/mein Geliebter...’. Und unvermittelt tauchen wir in eine der so mylènetypischen Mehrdeutigkeiten. Was eben noch der Hinweis auf die Gewalt auf Amerikas Strassen zu sein schien, wird unvermutet zu Mylènes ganz privater Sinfonie, wenn sie zu ihrem Geliebten als ihrer Wesson, ihrem Feuerwerk spricht. Die Kanone, nicht irgendeine, sondern die warme lebendige in ihrer Hand, wird durch den Vergleich mit einer Sinfonie zum Bekenntnis zur Sinnlichkeit, zum Leben.

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