Edgar A. Poe Unterschrift
Text von Holger Mettler, Gestaltung durch Peter Marwitz
"Wir schauen nur, aber wir sehen nicht." (Tarkowskij)

"Häufig denke ich jetzt daran , wie recht jene haben, die behaupten künstlerisches Schaffen sei ein Zustand der Seele. Weshalb? Vielleicht, weil der Mensch den Schöpfer nachzuahmen trachtet. Aber ist das denn richtig? Ist es denn nicht lächerlich, den Demiurgen nachzuahmen, dem wir dienen? Wir erfüllen unsere Schuld vor dem Schöpfer, indem wir die von Ihm gegebene Freiheit gebrauchen, um mit dem Bösen in uns zu kämpfen, um alle Hindernisse auf dem weg zu unserem Herrn zu überwinden, um geistig zu wachsen und mit allem Niedrigen in uns fertig zu werden; wenn wir dies tun, dann brauchen wir nichts zu fürchten. Gott steh mir bei, schicke mir ein Lehrer, ich bin es müde auf ihn zu warten."
(Aus Andrej Tarkowskij. "Tagebücher" 23.9.83 Rom)

"Was ist überhaupt Kunst? Das Gute oder das Böse? Kommt sie von Gott oder vom Teufel? Aus der Kraft des Menschen oder seiner Schwäche? Ist sie vielleicht ein Unterpfand für menschliche Gemeinschaft und ein Bild sozialer Harmonie? Besteht darin etwa ihre Funktion? Sie ist etwas so wie eine Liebeserklärung. Wie ein Eingeständnis der eigenen Abhängigkeit vom anderen Menschen. Sie ist ein Bekenntnis. Ein unbewusster Akt, der aber den eigentlichen Sinn des Lebens widerspiegelt – die Liebe und Opfer."
(Aus Andrej Tarkwoskij. Die versiegelte Zeit.)



Film als Poesie – Poesie als Film

Einleitung

In diesem Artikel beleuchten wir verschiedene Facetten im Werk des 1985 im Pariser Exil verstorbenen, sowjetischen Filmregisseurs A. Tarkowskij und versuchen damit auch eine Brücke zu Mylène Farmer und Laurent Bouttanant zu bauen. Beide Künstler, dies belegen Aussagen aus Interviews, verehren diesen einzigartigen Filmregisseur. Im Filmwerk von Mylène, (einige Drehorte der Musik-Videos liegen in Russland, zahlreiche Aufenthalte in St. Petersburg und Moskau) gibt es immer wieder unbewußt, vielleicht aber auch bewußt ausgesuchte Motive, die den filmischen Motiven von A. Tarkowskij ähneln. Dass Mylène die russische Kultur und Literatur (Tolstoi, Dostojweskij etc.) liebt ist bekannt. Wir wollen aber hier speziell Mylènes Affinität für die filmischen Motive und Erzählweisen den russischen Regisseur und Autors A. Tarkowskij betrachten.

Andrej Tarkowskij gehört zu den bekanntesten und viel diskutierten russischen Filmregissseuren. Sein Gesamtwerk beläuft sich nur auf 7 lange Spielfilme, die er zwischen 1962 und 1985 gedreht hat. Die Filme von Andrej Tarkowskij haben die Rezeption des Kinos, überhaupt die Vorstellung von dem, was Kino sein kann, in den letzten Jahrzehnten neu bestimmt. Zahlreiche Bücher, Aufsätze und filmwissenschaftliche Abhandlungen und letztendlich auch Dokumentarfilme über das Werk und Leben dieses Ausnahmeregisseurs zeigen eine starke Auseinandersetzung mit dem Werk und den filmischen Theorien von Tarkowskij.

Die Filme beginnend mit IWANS KINDHEIT, ANDREJ RUBLJOW über SOLARIS, DER SPIEGEL und STALKER bis zu den beiden Exil-Filmen NOSTALGHIA und DAS OPFER sind monumentale Leistungen. Sie sind kinematograhische Entwürfe eines eigenwilligen, visionären filmischen Erzählstils, hinter dem eine bestimmte Betrachtungsweise der Welt und eine Philosophie steht, eine Haltung, die dem Religiösen und der Metaphysik aufgeschlossen ist.

Eine große filmverliebte Fangemeinschaft im Westen und zahlreiche Künstler zu denen auch Mylène Farmer und Laurent Boutonnat verehren das filmischen Oeuvre von A. Tarkowskij. Sie werden, ähnlich wie das Werk von Mylène Farmer, ausgesprochen "kultisch" rezipiert. Auch im Internet gibt es inzwischen wahre Diskussions- und Informationszirkel, in denen sich begeisterte Fans über das Werk dieses grossen Filmemachers austauschen. Die sog. "Kunst-Kinos" sind immer wieder gefüllt wenn eine Werkschau des "Philosophen des Kinos" stattfindet und sich die Enthusiasten den "dunkel-schönen" Filmbilder voller "traumlogischer-assoziativer" Motive hingeben. Daraus resultierte eine in den letzten Jahren überwuchernde Diskussion um die Metaphern und Symbole der Tarkowskijischen Filmwelt. Wir wollen hier versuchen, Bezüge zu Mylènes Videos, Liedern, Filmen etc. auf der Symbolebene herzustellen, dies kann aber nur in eine sehr spekulative Analyse münden.


Der Bezug zu Mylène

Zitate von Laurent Boutonnat & Mylène Farmer:

«Ich bewundere auch russische Filmemacher. Sie mögen diese Art, sich Zeit zu nehmen und auf einem Thema zu bleiben, bis sie einen wahrhafte Empfindungen wahrnehmen lassen. Wie Tarkowskij, es gibt etwas Magisches bei ihm, sehr menschlich, selbst wenn seine Filme nicht immer leicht zu bewundern sind.»
(...) Frage: In "Giorgino" findet man viele Symbole dieser Literatur: die Wölfe, die Schleiereule, das schwarze Pferd, den Vollmond...
L. Boutonnat: «Ja, man hat mir sogar gesagt, daß das schwarze Pferd die Hauptfigur des Films ist, was nicht verkehrt ist (lächelt). Aber das sind Archetypen, Bilder der Kindheit, die in der ganzen Welt ruhen, mehr oder weniger stark.
(Laurent Boutonnat, Studio Magazine, Nov. 1994)

«Ich habe die Filme von Tarkowskij gesehen. Wie ich auf ihn gekommen bin? Ich habe Artikel gelesen, Bücher und dort tauchte sein Name auf. Ich habe seine Filme gekauft. Ich habe sie alle. "Stalker" ist derjenige, den ich am meisten gemocht habe...» (Mylène Farmer, Argumente i Fakte, März 2000)

Frage: In Giorgino findet man ein Universum, das, so scheint es, sowohl Laurent Boutonnat als auch Ihnen selbst sehr am Herzen liegt? Wie beschreiben Sie diese Vorstellungswelt?
M. Farmer: «Es ist eine gestörte/unklare und eine verstörende Welt, voller Poesie, wie ich hoffe. Ich teile mit Laurent die Vorliebe fürverschneite Landschaften (ich wurde in Kanada geboren). Ich werde angezogen von Beziehungen, schwierigen Gefühlen. Wir beide fühlen uns instinktiv von grausamen Geschichten angezogen, vom Irrationalen. Wir beide lehnen im Innern die Welt der Erwachsenen ab. Ich liebe Tiere, ich liebe Wahnsinn/Verrücktheit, zum Beispiel den zerbrochener Landschaften, wo der Blick nicht ruhig entlangwandern kann. Ich mag auch die permanent treibende Kraft, die Energie ohne mögliche Erholung. Ich liebe all das, was aus Träumen kommt.» (Mylène Farmer, Interview anläßlich des «Giorgino»-Films, 1994)


Aus unser Sicht ist es kein Wunder das Mylène sich mit Tarkowskij intensiv auseinandergesetzt hat. Wir sind überzeugt das es eine gewisse Seelenverwandtschaft von Mylène mit Tarkowskij gibt.

Es gibt aber eben noch keine direkten Aussagen, inwieweit Mylène und Laurent künstlerische Motive Tarkowskijs in ihr Werk einfliessen lassen. Natürlich obliegt es jedem selber zu entscheiden, Ähnlichkeiten und Inspirationen im Filmschaffen von Tarkowskij und bei Mylènes und Laurents Werken zu entdecken. Interessant erscheinen uns vor allem die Ähnlichkeiten im filmischen Rhythmus und die Omnipräsenz der Natur, als auch die Langsamkeit der Erzählweise und Kamera; und natürlich die bildnerische Symbolik, sowie die Düsternis und Stille der Filme von Laurent und Tarkowskij. "Giorgino" zeigt dies am deutlichsten auf.

Auch die in Mylènes frühen Filmen wiederkehrenden Szenen mit Pferden und Wölfen (insbesondere der Schluss von "Giorgino"), Kirchen, Jesus-Kreuze, Grabsteine, Stilleben, Wasser, Regen, Feuer Wind, Gras, und Symbole des Todes in einsamen Landschaften geben Aufschluss über Laurents bzw. Mylènes Liebe zu spätromantischen Themen. Holzfeuer, Stillbilder von verlassenen Räumen, barocke Pastellfarben (Ocker, Blau, helles Gold), Ikonen, Fresken, Glocken, Kerzen, Kirchturmglocke etc. zeigen Gemeinsamkeiten mit Tarkowskijs Symbolik auf. Das großartige Video zu "Désenchantée" könnte fast ein Video von Tarkowskij sein!


Das Werk von Tarkowskij

Tarkowskijs Filme sind sehr individuelle, eigensinnige poetische und metaphyische Schöpfungen, die sich um existenzielle und ethische Fragen drehen und die Welt der Dinge so wie wir sie sehen zu glauben auf den Kopf stellt. In ihrer Bildgewalt und in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung sind sie in der künstlerischen, philosophischen und religiösen Tradition der Spätromantik anzusiedeln. Diese Zeit ist geprägt von künstlerischen Werken, die versuchen die Traumata, Ängste, Lebenüberdrusse, assoziert mit einer religiösen Sehnsucht nach dem Paradies zu bewältigen. Tarkowskijs dramatische Motive, die in unterschiedlicher Form in den filmischen Bildkompositionen immer wieder auftauchen und daher auch sehr symbolische Assoziationen hervorrufen sind geprägt durch sein Leben und seine Kindheit auf dem Lande. Manchmal wirkt das beständige Wiederauftauchen dieser "ländlichen" Bildmotive fast so aufdringlich wie eine "idée fixe". Die rein illustrativen wie die allegorischen, sichtbaren und verborgenen, veränderlichen wie die konstanten Motive sind fast wie in einem meditativen Akt allgegenwärtig und verbinden sie miteinander. Durch ihre Allgegenwart verknüpfen sie die filmischen Themen aller Filme und zeigen damit den individuellen Gedankenkosmos von Tarkowskij auf.

In Tarkowskijs Filmen gibt es z.B. regelrechte "Portraits des Regens". Es sind ebenso wie die dunklen und Regenbilder des grossen japanischen Filmregissseurs Kurasawas originale Betrachtungen der 4 bestimmenden Elemente des Lebens. In ihrer tiefen Symbolik berühren sie jeden Menschen. Abgesehen von diesen Naturmotiven gibt es bei Tarkowskij auch viele schwer zu entschlüsselnde Symbole und Verkörperungen des menschlichen Lebens die in der Gestalt von Kindheitssehnsucht, Unschuld, Furcht, Angst, Hoffnung Vergebung, Heimkehr, Sehnsucht nach dem anderen dargestellt werden. Die Wahrnehmung der meditativen, sehr kompositorisch angelegten Filmbilder, die oftmals die Grenzen zwischen der Innen – und Außenwelt, zwischen Traum und Wirklichkeit aufheben, sind wunderbare Momente des Glücks, sie zeigen letztendlich auch die Universalität und Verbundenheit des Menschen im Gefühl für Schönheit auf. Die Filmmusik ist meist getragen von romantischen und sakralen Klänge in der Tradition Bachs und Beethovens.

Tarkowskij setzt sich in seinen Filmen sehr stark mit dem Raum- und Zeitbegriff des Kinos auseinander. Oftmals wird der Zuschauer durch Vor- und Rückblenden bzw. ungewöhnlichen Kamereaperspektiven, Kameraeinstellungen und sehr stark choreographierten Kamereafahrten in die Wahrnehmung einer Traumbildabfolge versetzt. Erinnerung, Gegenwart und Zukunft vermischen sich zu einer neuen Einheit. Diese Art der filmischen Gestaltung ist nirgends so radikal wie bei Tarkowskij sichtbar. Er selber sieht sich als ein "Bildhauer der Zeit". Sämtliche Elemente, selbst die kleinsten Einheiten des Films, sind hier in einem außerordentlichen Sinn "zeithaltig" und werden als Momente, in denen Zeit versiegelt ist, zur "synäesthetischen Polyphonie" des menschlichen Schicksals verknüpft.


Ein poetischer Monolog aus dem Film "Der Spiegel":

"Ich glaub nicht an Ahnungen und Vorzeichen fürchte ich nicht. Ich fliehe weder vor Verleumdung noch vor Gift. Den Tod – es gibt ihn nicht auf dieser Welt, und fürchten sollte man ihn nicht gleich ob mit siebzehn oder siebzig Jahren. Alle sind unsterblich. Alles ist unsterblich. Für uns nur Wirklichkeit und Licht, nicht Finsternis und Tod auf dieser Erde. Wir alle stehen schon am Rand des Meeres. Ich bin bei denen, die die Netze wählen, wenn wie ein Schwarm zieht die Unsterblichkeit. Lebt ihr in einem Haus – dies Haus stürzt niemals ein. Ein Jahrhundert ruf ich herbei, gleich welches. Ich geh in es hinein und bau mir da ein Haus. Darum sind eure Kinder und Frauen mit mir an einem Tisch. Ein einziger Tisch für Ahnen und Enkel. Das Künftige geschieht schon jetzt, und heb ich die Hand ein wenig empor: fünf Kienfackeln bleiben bei euch. Jeden vergangenen Tag stützte ich mit meinen Schlüsselbeinen wie ein Bollwerk. Ich maß die Zeit mit einer Feldmeßlatte und ging hindurch als sei es der Ural. Ein Zeitalter nach meinem Maße, das suchte ich mir. Wir gingen nach Süden, ertrugen den Staub der Steppe, Dunst über dem Steppengras. Die Grille warf sich umher, ihre Fühler berührten die Eisen der Hufe. Gar wie ein Mönch prophezeite sie und drohte mir mit Untergang. Mein Schicksal knüpfte ich an den Sattel. Auch jetzt noch in künftigen Zeiten erhebe ich mich in den Steigbügeln, einem Knaben gleich. Unsterblichkeit hab ich genug, damit mein Blut von einem uns andere Leben sich ergießt. Mein Leben gäb ich willig hin für einen sicheren Winkel stetiger Wärme. Doch jagt die fliegende Nadel mich wie einen Faden durch die Welt."


Die Kritik und Rezeption

Während die meisten unkonventionellen Regisseure sich eher mit verletzenden Kritiken, negativen Zuschauerreaktionen und purer Missachtung herumschlagen müssen (man erinnere sich auch an die Kritik an "Giorgino" von L. Boutonnat), wurde Tarkowskij oft mit der Ratlosigkeit und Verstörtheit seines Publikums konfrontiert. Viele Briefe an ihn drücken ein absolutes Unverständnis seiner Arbeit aus, aber auch den Wunsch, sich im Gesehenen zurechtzufinden bis zur uneingeschränkten Bewunderung seines Werks. Hier ein paar Zitate:

"Was für ein abgeschmackter Quatsch. Pfui, das ist geradezu widerwärtig! Für mich ist der Film ein Schuss ins Leere. Er erreicht den Zuschauer nicht, und der Zuschauer ist doch schliesslich das wichtigste!"

"... Diesen Film muss man sich ganz schlicht und einfach ansehen und dabei der Musik von Bach und den Gedichten von Arsenij Tarkowskij lauschen. Und zwar muss man sie so ansehen, wie man die Sterne, das Meer oder eine schöne Landschaft betrachtet. Mathematische Logik wird man hier vermissen. Aber schliesslich erklärt diese auch nicht, was nun eigentlich der Mensch ist und worin der Sinn seines Lebens besteht."

"Wissen Sie, als ich im dunklen Kinosaal auf ein von Ihrem Talent ausgeleuchtetes Stück Leinwand schaute, da fühlte ich mich zum erstenmal in meinem Leben, daß ich nicht allein bin."

In der Tat ist es schwierig bis unmöglich, Tarkowskijs Werk mit den üblichen Mitteln der Filminterpretation und Logik anzugehen. Vieles muß man einfach sehen , muß die visionäre und fast natur-religiöse Bildsprache Tarkowskijs einfach auf sich wirken lassen, in sich aufnehmen. Und sich über das undefinierbare aber intensive Gefühl freuen, etwas kostbares mitgegeben bekommen zu haben. So wie der Leningrader Arbeiter, der über den Film "Der Spiegel" sagte: "Ein Film, von dem ich nicht einmal zu schreiben vermag, aber von dem ich lebe."


Die Filmsymbolik

Tarkowskij bedient sich meistens nur weniger vereinzelter Objekte (z.B. altes Haus, Kind, Baum, Ikonenbilder, Pfützen, Lampen, Gläser, Blumenstrauß), die jedoch innerhalb ihres filmischen Univerums fühlbare Präsenz und übergeordnete Bedeutung gewinnen. Allein das Abbilden von Räumen oder Landschaften in traumartigen Kombinationen und Übergangen von Licht und Dunkel, Farben und Figuren wird bei Tarkowskij zu einer ungewöhnlich spannenden Angelegenheit, atmet geradezu die Realität, ist Teil und Spiegel der inneren Verfassung des Protagonisiten. Bestimmte filmische Symbole tauchen immer wieder in Filmen von Tarkowskij auf. Obwohl er selber diesen Dingen eine andere Bedeutung zuordnet, dies zeigen seine diversen Aussagen, nennen wir sie hier kurz: Beispielsweise taucht das Motiv der Hexe (ANDREJ RUBLJOW) in OPFER ebenso auf wie das Opfer-Thema selbst (NOSTALGHIA): die schwebende Frau (DER SPIEGEL): das Holzhaus en miniature (NOSTALGHIA) und die Datscha als Synonym für das Vaterhaus (SOLARIS, DER SPlEGEL), das Fanal, die Elemente Feuer und Wasser (NOSTALGHlA und STALKER), die verschüttete Milch (DER SPlEGEL, NOSTALGHiA), das Heiligenbild, sei es nun die lkone "Dreifaltigkeit" des Malermönchs Andrej Rubljow (ANDREJ RUBLjOW), der Ausschnitt "Johannes der Täufer" vom Genfer Altar der Bruder, Hubert und Jan van Eyck (STALKER), das Fresko "Madonna del Partocc" von Piero della Francesca (NOSTALGHlA) oder jetzt in OPFER Leonardo da Vincis unvollendet gebliebene "Anbetung der Könige" – allesamt Gemälde aus dem 15.Jahrhundert.


Die Filme

Fast alle Filme sind als Video bzw. DVD erschienen bzw. laufen auch immer wieder in Kunstkinos grosser Städte. Eventuell führen auch gute Videotheken die Filme von Tarkowskij. Empfehlenswert sind die Orginalfassungen mit Untertitel.

Filmliste (chronologisch):

Die Walze und die Geige
UDSSR 1961
Produktion MOSFILM
Regie Andrej Tarkowskij
Buch: Andrej Michalkow-Kontschalowskij, A. Tarkowskij
Darsteller: Igor Fomtschenko, W. Samanskij etc.
Länge: 46 Minuten

Inhalt:
Tarkowskijs selten gezeigte, halbdokumentarische Diplomarbeit, erzählt von der Freundschaft zwischen einem siebenjährigen, geigespielenden Jungen und einem Dampfwalzenfahrer.

Iwans Kindheit
UDSSR 1966/1967
Produktion: MOSFILM
Regie: Andrej Tarkowskij
Buch: Wlademir Bogomolow
Kamera: Wadim Jussow
Darsteller: Kolja Burljajew, W. Zubkow, E. Scharikow
Länge 97 Minuten

Inhalt:
Der zwölfjähriger Waisenjunge wird im Zweiten Weltkrieg Kundschafter der Rotarmisten an der Ukrainefront und findet dabei den Tod durch die Nazis. Das Elend des Krieges uns die Suche nach der verlorenen Kindheit steht im Mittelpunkt der Handlung. Die einzigartigen Bildkompositionen, Licht- und Schattenspiele dieses Films werden heute schon als Meilensteine der Filmkunst betrachtet und in diversen Lehrbücher immer wieder zitiert. Der Film erhielt zahlreiche internationale Preise.

Andrej Rubljow
Regie: Andrej Tarkowskij
Kamera: Vadim Jusow
Drehbuch: Andrej Tarkowskij
Filmdauer:ca.180 Minuten
Besetzung:Anatolij Solonizyn, Kolja Burljajew u.a

Inhalt:
Die Geschichte des russischen Mönches und Ikonenmalers Andrej Rubljow, der begnadet talentiert war, doch die Liebe nicht hatte und den Glauben nicht. Faszinierende Schwarz-Weiß-Bilder; eindrucksvoll vor dem Hintergrund der Tartarenkriege inszeniert. Der Film schildert den alltäglichen Kampf des an humanistisch-aufklärerischen Ideen orientierten Malers (Anatolij Solonizyn) und seinen persönlichen Werdegang, der gekennzeichnet ist von Phasen des Zögerns, des Infragestellens, der metaphysischen Selbstzerfleischung und des Kampfes zwischen Glauben und Zweifel. Rubljow wird Zeuge der menschenverachtenden Macht- und Kriegspolitik seiner eigenen Auftraggeber aus der herrschenden Schicht.

Solaris
UDSSR 1972
Regie: Andrej Tarkowskij
Kamera: Vadim Jusow
Drehbuch: Andrej Tarkowskij
Besetzung: Donatas Banionis, Nikolaj Grinko, Natalia Bondartchuk, Juri Jarwet u.a.
Länge: 167 Minuten

Inhalt: Verfilmung des Science-Fiction-Romans von Stanislaw Lem.
Der Psychologe Calvin wird beauftragt, die Arbeit in einer fernen Raumstation, die um den Planeten Solaris zu begutachten, um dann zu entscheiden, ob und wie das ins Stocken geratene Projekt fortgesetzt werden soll. Doch bei seiner Ankunft ist von den verbliebenen drei Mann Besatzung einer tot, die anderen scheinen psychisch gestört zu sein. Sie behaupten, dass Solaris in Wahrheit ein riesiges Gehirn sei, das versuche, ihre Gedanken zu erforschen. Die eigentlichen Beobachter werden zu Beobachteten. Im Bemühen, mit unbekannten Kräften des Universums zu kommunizieren, geraten die Wissenschaftler in einen Erkenntnisstrudel, in dem sie selbst zum Rätsel aller Rätsel werden. Die Konfrontation mit einer absolut fremden Lebensform wird für die Besatzung des Raumschiffes zur metaphysischen Reise in die Innenwelt ihrer eigenen Kultur. In Gestalt der technischen Utopie wird auch der Fortschrittsglaube in Frage gestellt.

Der Spiegel
UDSSR 1974
Produktion: MOSFILM
Regie: Andrej Tarkowskij
Kamera: Giorgij Rerberg
Drehbuch: Alexander Mischarin, Andrej Tarkowskij
Darsteller: Margerita Terechowa, Ignat Danilzew, O. Jankowskij etc.
Länge 108 Minuten

Inhalt: Erinnerungen des Autors an seine Kindheit
Tarkowskijs persönlichster und schwierigster Film. Die Suche nach Identität und die Bilanz eines Lebens ist das Thema des autobiographisch geprägten Films. Im Mittelpunkt: Ein Mann, Sohn geschiedener Eltern, auf der Suche nach der verlorenen Zeit und nach sich selbst. Die Handlung beschreibt die Zeit von 1930 bis zum Anfang der 70er Jahre und verknüpft privates Schicksal mit gesellschaftlichen Umbrüchen. Tarkowskij verbindet auf faszinierende Art Dokumentarmaterial, persönliche Erinnerungen, Träume und Ahnungen miteinander. Rückblenden und Gegenwartsszenen erscheinen in Farbe, Dokumentaraufnahmen in schwarz-weiß, Szenen frühester Kindheit haben einen künstlichen Braunton. Andrej Tarkowskij folgt in seinem stark autobiografisch bestimmten Film der verschlungenen Struktur eines Bewußtseins und setzt an die Stelle linearer Erzähllogik die poetische Brechung und Reflexion

Stalker
UDSSR 1979
Regie: Andrej Tarkowskij
Kamera: Alexander Knjaschinskij
Drehbuch: Andrej Tarkowskij (nach einem Roman der Gebr. Strugatkij
Filmdauer:161 Minuten
Besetzung: Aleksandr Kajdanowskij, Anatolij Solonizyn, Niklaj Grinjko, Alissa Freindlich u.a

Inhalt:
Verfilmung des utopischen Romans "Picknick am Wegrand” von Boris und Arkadij Strugatzkij
Die utopische Reise dreier unterschiedlicher Männer in das Zentrum einer abgeschirmten und gefährlichen Sperrzone. In der Zone befindet sich ein geheimnisvoller Raum, in dem alle Wünsche eines Menschen erfüllen werden können. In der "verwunschenen" Zone sind aber alle Naturgesetze ausser Kraft gesetzt. Die Suche wird zu einer Suche nach dem Sinn des Lebens.

Nostalghia
Regie: Andrej Tarkowskij
Kamera:Giuseppe Lanci
Drehbuch: Andrej Tarkowskij , Tonino Guerra
Filmdauer: 130 Minuten
Besetzung:Oleg Jankowskij, Domiziana Giordana, Erland Josephson, Patrizia Terreno u.a.

Inhalt:
Die Reise eines russischen Intellektuellen durch Italien ist Anlaß einer Reflexion, einer Suche nach etwas, das möglicherweise nicht existiert. Das Wort »Nostalghia« meint im Russischen ein vielschichtiges Gefühl, in dem sich Liebe zur Heimat mit der Trauer, fern von ihr leben zu müssen, mischt; es ist die Wahrnehmung des Absoluten und seiner Unerreichbarkeit.

Opfer
Regie: Andrej Tarkowskij
Kamera: Sven Nykvist
Drehbuch: Andrej Tarkowskij
Filmdauer: 149 Minuten
Besetzung: Erland Josephson, Susan Fleetwood, Valérie Mairesse, Allan Edwall u.a.

Inhalt:
Ein Intellektueller, der sich in die Einsamkeit einer nordischen Insel zurückgezogen hat, bietet sich angesichts einer sich ankündigenden atomaren Katastrophe Gott als Opfer an und gelobt, seinen Besitz zu zerstören, die Seinen zu verlassen und zu verstummen. Tarkowskijs letzter Film ist eine vieldeutige poetische Parabel.



Biografie

Andrej Tarkowskij wird am 4. April 1932 in Sawrashje geboren, einem Dorf nordöstlich von Moskau. Sein Vater ist der bekannte Dichter und Übersetzer Arsenij Tarkowskij, seine Mutter Maja Iwanowna Wischnijakowa. Die Familie hat später noch eine Tochter namens Marina. Nach der frühen Trennung der Eltern wachsen die Kinder bei ihr auf. 1939 besucht Andrej eine Schule in Moskau, die er wegen des Kriegsausbruchs wieder aber kurz darauf wieder verlassen muß. Er lebt bei der Mutter in der Provinz. Im Kriegsverlauf wird die Familie evakuiert, kurzfristig kommen sie bei Verwandten unter. Ab 1943 besucht der Andreij erneut die Schule in Moskau. Er erhält zusätzlich eine musikalische und zeichnerische Ausbildung an der Kunstschule "1905".

1951 beginnt er ein Studium am Moskauer Institut für östliche Sprachen, das er wegen einer Gehirnerschütterung unterbrechen und schließlich ohne Abschluß beenden muß. Er schließt sich als Arbeiter einer geologischen Forschungsgruppe des Kirgisischen Gold-Instituts an und arbeitet ein Jahr am Fluß Kurejka in der Turuchansker Region. 1954 beginnt er mit seinem Studium an der Moskauer Filmhochschule WGIK, wo der Regisseur Michail Romm sein wichtigster Lehrer wird. Tarkowskij ist fasziniert von den Filmen Buñuels und Bergmans und dem Neorealisnmus der Nachkriegsfilme in Frankreich und Italien. 1959 dreht er mit Alexander W.Gordon als Vordiplomarbeit den Fernsehfilm SEGODNAJA UWOLNENIJA NE BUDET, bei dem es um die Entminung eines noch aus Kriegszeiten übriggebliebenen deutschen Munitionsdepots geht. 1960 verläßt er das WGIK mit dem Diplom im Fach Regie. Sein Abschlußfilm ist KATOK ISKRIPKA (Die Walze und die Geige). Er enthält schon verschlüsselt eingearbeitete viele persönliche Erlebnisse aus der Kriegszeit. 1962 bekommt Tarkowskij Gelegenheit das angefangene Filmprojekt der staatlichen Filmorganisation MOSFILM "IWANOWO DETSTWO" (Iwans Kindheit) zu übernehmen und fertigzustellen. Zusammen mit Wladimir Bogomolov, dem Autor der literarischen Vorlage, schreibt er ein neues Drehbuch. Der Film erhält bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 1962 den "Goldenen Löwen" und im gleichen Jahr auf dem Festival in San Francisco den "Golden Gate Award" für die beste Regie. Die west-europäische Kritik feiert Tarkowskij als vielversprechenden Regisseur des russischen Kinos.

1964 beginnen die Dreharbeiten zur Lebensgeschichte des Ikonenmalers ANDREJ RUBLJOW, die sich mit Unterbrechungen bis Ende 1965 hinziehen. Ende 1966 wird der Film fertiggestellt. Die Darstellung der historischen Ereignisse wird von staatlichen Stellen kritisiert, die gezeigten Grausamkeiten und eine Nacktszene werden abgelehnt. In Moskau kommt er erst 1971 in die Kinos und wieder zwei Jahre später geben ihn die sowjetischen Behörden für den Export frei. Gegen sowjetischen Protest wird der Film 1969 in Cannes außer Konkurrenz gezeigt und erhält den Preis der internationalen Filmkritik, die sowjetische Delegation reist unter heftigen Protest ab. Danach beginnt Tarkowskij die Dreharbeiten zu Solaris, nach Motiven des Science Fiction Roman SOLJARIS des polnischen Autors Stanislaw Lem. Der Film wird im Mai 1972 in Cannes als offizieller sowjetischer Beitrag gezeigt und mit dem Preis der Jury ausgezeichnet.

SERKALO (Der Spiegel), wird 1974 von Tarkowskij unter größten Schwierigkeiten fertiggestellt. Er ist der am stärksten autobiographisch geprägte Film Tarkowskijs, ein verschachteltes, verschlüsseltes Werk, in dem sein Konzept vom "Film als Bildhauerei aus Zeit" am stärksten herausgestellt wird. Wieder bekommt der Film von staatlicher Seite heftige Ablehnung. Auch das Publikum ist sehr bei der Rezeption gespalten. STALKER, Tarkowskijs letzter sowjetischer Film, entsteht 1979 nach einer literarischen Vorlage der russichen Science Fiction Schriftsteller A. und B. Strugatzkij. Auf dem Festival wissenschaftlicher und phantastischer Filme in Madrid 1981 erhält Tarkowskij den Kritikerpreis. Seine deutsche Erstaufführung hat der Film auf dem Internationalen Forum des jungen Films 1981 in Berlin, wo die zum Teil enthusiastische Tarkowskij-Rezension in der Bundesrepublik ihren Anfang findet.

In der Sowjetunion verstärken sich die künstlerischen und damit auch persönlichen Schwierigkeiten des Regisseurs. Mit seinem Lieblingsschauspieler Anatolij Solonizyn in der Titelrolle inszeniert er an einem Moskauer Theater Shakespeares Hamlet. 1983 bleibt er nach einer Italienreise im Westen und lebt fortan in der Emigration, die er jedoch nie als endgültig betrachtet. Es beginnt ein zäher und langwieriger Kampf um die Ausreisegenehmigungen für seine nächsten Angehörigen. Im November 1983 inszeniert er an Londons Covent Garden Opera Mussorgskijs Boris Godunow. Im selben Jahr stellt Tarkowskij in Italien NOSTALGHIA fertig, der das Thema der Emigration zum Inhalt hat. 1985 ist Tarkowskij Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und Gast des Künstlerhauses Bethanien in Berlin. Schon von einer Krebskrankheit gezeichnet, beginnt er im Mai 1985 mit seinen letzten Film OFFRET (Das Opfer), einer schwedisch-französischen Gemeinschaftsproduktion. Ebenfalls 1985 erscheint Tarkowskijs vielbeachtetes Buch "Die versiegelte Zeit" mit Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. OFFRET wird in Cannes 1986 aufgeführt und erhält den Preis der Jury. Der Regisseur kann ihn wegen seiner Krankheit nicht mehr persönlich entgegennehmen.

Seinen langjährigen Plan, die Verfilmung des Lebens von E.T.A. Hoffmann, wozu er schon 1976 ein Drehbuch entwickelt hat, kann Tarkowskij nicht mehr realisieren, ebensowenig wie Dostojewskijs "Der Idiot", und einige andere Stoffe, die ihn seit Jahren beschäftigen. Am 29. Dezember 1986 stirbt Andrej Tarkowskij an Lungenkrebs in Paris. Er wird auf dem Friedhof Sainte Geneviève des Bois in Paris beigesetzt. Nach der Auflösung der Sowjetunion, und dem Mauerfall in Berlin, wird Tarkowskij auch in Russland wiederentdeckt und enthusiastisch gelobt.


Bücher:

Andrej Tarkowskij: "Martyrolog", Tagebücher 1970–1986, Limes, 1989.
Andrej Tarkowskij: "Die versiegelte Zeit", Ullstein, 1985.
Hans-Dieter Jünger: "Kunst der Zeit und des Erinnerns", edition tertiun, Ostfildern, 1995.
Marja Josifowna Turowskaja/Felicitas Allard-Nostiz: Andrej Tarkowskij: "Film als Poesie, Poesie als Film",
Bonn, Keil Verlag, 1981.
Versch. Autoren: "Andrej Tarkowskij", Reihe Film 39, Hanser-Verlag, 1987.
William Powell (Translator), Natasha Synessios (Translator): "Collected Screenplays by Andrei Tarkovsky", 564 pages, Faber & Faber. 1999

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